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Abschnitt 68


Wenn man hoch über einem großen Saal, in dem sich viele, vielleicht mehrere Hundert Menschen befinden, schwebte, und von dort den Bewegungen tief unter einem folgte, was würde man sehen? Sicherlich wirkte alles recht zufällig, oder im wissenschaftlichen Sinne, im Sinne der gleichnamigen Theorie, chaotisch. Ein Kommen und Gehen, ohne daß man einen Sinn zu erkennen glaubte. Aber dann, wenn man sich das gleiche Geschehen mit einer Kamera im Zeitraffermodus anschaut, erkennt man die Gesetzmäßigkeiten. An verschiedenen Stellen im Saal kristallisieren sich Häufungspunkte, dort wo sich Menschen immer wieder zusammenballen, zum Beispiel dort wo sie sich mit Getränken oder Zigaretten versorgen können oder dort wo der Ausgang zur Toilette ist. Aber es gibt auch bewegliche Attraktoren. Leute, die mehr als andere gesucht sind. Immer wieder klumpen sich um sie Trauben von Menschen, kurzzeitig sind sie dann mal alleine, aber nie von langer Dauer, immer wieder umgeben von sich interessiert gebärdenden oder fröhlich lächelnden Menschen. Manche sind meist fast nur von Frauen, oder entsprechend nur von Männern umgeben, und die, die sie umtänzeln, suchen nicht nur den Herrn Bürgermeister, die Oberärztin oder den Schuldirektor, sie erregt der Mann oder die Frau hinter der Fassade. Aber es gibt auch die, die von beiderlei Geschlechtern umschwärmt, aber wohl kaum sexuell begehrt sind. Und dann die Steppenwölfe, alleine, wenn sie sich nicht selbst zu einem der Akkumulationspunkte bewegen.

Das Wohnzimmer von Felix und Vera wäre wohl für einen solchen Versuch nicht groß genug, obwohl es mit seinen neun mal acht Metern die Umrisse eines kleinen Einfamilienhauses hat. Obwohl sie mit ihren fünfzehn Gästen, zwanzig hatten sie ursprünglich eingeladen, eine große Menge in ihrem Wohn- und auch in ihrem Eßzimmer versammelt hatten, waren wohl dennoch nicht genug Leute anwesend, um solche statistischen Effekte effizient beobachten zu können. Aber auch hier hätte man wenigstens zwei Magneten ausmachen können: der eine gebildet von Mohler und seiner Frau Dominique und der andere gebildet von Vera und Felix. Wie bei allen Festen scharten sich immer wieder die Gäste um die Gastgeber. Von ihnen konnte man aus erster Hand erfahren, was es noch zu erwarten gab im Verlaufe des Festes. Vor allem, was es zu essen geben wird, und wann es sein wird, interessiert viele brennend. Wer sonst außer den Festveranstaltern kannte die Namen aller Gäste, wußte was sie beruflich machten, wo sie wohnten und warum sie eingeladen waren. Sie können die Neugier der Gäste am sichersten stillen.

Und so war es auch nicht verwunderlich, daß viele, bevor sie bei Mohler landeten, sich erst einmal bei Vera oder Felix vergewisserten, ob der ältere Herr im feinen dunklen Anzug mit der jungen attraktiven Gattin, wirklich Felixens oberster Chef sei. Andrea schaute nahezu ehrfurchtsvoll in Mohlers Richtung, während es ihrem Mann Wolfgang nur schwerlich gelang, seine gewohnte Selbstsicherheit zu demonstrieren. Als Leiter der kleinen Sparkassenfiliale war er es zwar gewohnt mit reichen Leuten zu verkehren, aber seine bisherigen Idole verblaßten im Schatten von Mohlers Vermögen. Andreas offen gezeigte und Wolfgangs verstohlene Ehrfurcht ließen Veras Stolz noch heller strahlen. Auch Chris, der ja immer wieder behauptet, daß ihn solche Machtmenschen, wie er Politiker und Wirtschaftsbosse gleichermaßen zu bezeichnen pflegt, kalt ließen, schien beeindruckt, auch wenn er sich auch sichtlich Mühe gab, diesen Eindruck zu vertuschen. Aber Moni schien unberührt, oder sie verbarg es erfolgreich. Chris bildete aber auch einen Blickfang für Mohler. Sein langes Haar, hinten zu einem Zopf gebunden und seine extrem Kleidung bewirkten es. Seien verwaschene Jeans, sein Sweatshirt von dem Einstein auf seinem Rücken seine Zunge herausstreckte, aber vor allem sein Schuhwerk irritierte Mohler vom ersten Augenblick an: Joggingschuhe. Wenn es wenigstens neue wären, aber sie wirkten alt, und es schauderte ihn: dreckig und zerschlissen. Und Chris spürte instinktiv die Aufmerksamkeit, die er bei Mohler hervorrief. Er wollte mit diesem Wesen aus einer anderen Welt, aus der Welt, der nun auch Felix mit soviel Hingabe angehörte, Kontakt aufnehmen.



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