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Abschnitt 24


Was für einen langen Schatten sie warf, staunte Vera. Unglaublich, weit über das angrenzende Grundstück hinaus, über den feuchten Rasen. Tausende winziger rotgoldener Edelsteine, nein Tropfen, Ebenbilder der gerade erst über den Horizont gekrochenen Sonne. Ein Sternenfeld im Rasen. Juwelenbehangen ihre Birke. Zebra unter den Bäumen. Hoch in den Himmel streckt sie ihre dicken Äste und die dünnen Zweige hängen zu Boden. An ihren Blättern Morgentau, Tränen, aber keine Trauer. Wie zerfranst der Rand war, dort hingen die Tropfen. Abwechselnd kleine Zacken zwischen großen. Durchfurcht von Straßen, eine vom Blattstängel bis zur Spitze, und von dort Abzweigungen zur Seite, mal zur einen, mal zur anderen, nie gleichzeitig, wie es Menschen wohl konstruiert hätten.

So neu, so frisch und klar sah alles aus, wie sie es noch nie gesehen hatte. Beinahe so, als würde sie ihren Garten zum ersten Mal sehen. Eine Blinde über Nacht sehend geworden. Festhalten für immer, diesen Taumel der Sinne, Schild gegen das Grau. Grau, welches sei wochenlang umhüllte. Weg war der Nebel, weg waren die Wolken. Gestern Nacht noch depressiv und ängstlich, und nun Helle. Stark fühlte sie sich, ja. Aufbruchstimmung? Unruhe, sie mußte was tun. Wärmende rötliche Strahlen der aufgehenden Sonne durchströmten sie, weckten ein Kribbeln und ein Verlangen. Vage Sehnsucht nach Unerreichbarem, Fata Morganas, gespiegelte Erinnerungs- und Gefühlsfetzen. Festhalten, nicht gehenlassen die Faszination des Augenblickes.

Ein riesiges kunstvolles Spinnennetz, schwer vom Fang der Nacht, Tau und kaum Blut, glitzert verlockend. Oh, schon ein Schmetterling, so früh, wann erwachen sie, fragt sich Vera. Leicht fühlte sie sich, leicht wie dieser bunte Falter. Konnte er sich im Netz der Spinne verfangen? Er mußte es sehen, glänzend in der Morgensonne. Waren Schmetterlinge nicht sowieso zu stark und zu schwer für ihre Netze?

Offen war sie. Weit offen, bereit für die Farben und Düfte. Sie saugte sie auf, neu und ungewohnt, und sie fühlte sich leicht und unbeschwert.

Später, die Kinder, das Frühstücksritual, nichts hatte sie aus ihrem Zustand reißen können. Auch nach Stunden schwamm sie in der Wonne des Sonnenaufgangs. Alle Leute wirkten so ausgeglichen an diesem Morgen. Überall nur freundliche Gesichter fand sie. Nicht die gewohnte Hektik. Einfach nur so dasitzen, genießen, ihren Kaffee, die Musik, die Aussicht. Die Tauben am Dachsimms des Kaufhausdaches und tief unten auf der Suche nach Futter auf dem großen Platz mit dem Brunnen. Ein Cafébesitzer rückte schon Sonnenschirme zurecht, obwohl es im Schatten sicherlich noch zu kühl zum draußen sitzen war. Aber in ein zwei Stunden wäre das sicherlich anders.

`Platz' und `frei' hörte sie plötzlich eine Stimme vor ihrem Tisch und dann ,,Pardon, ist hier noch ein Platz frei!''

Eine tiefe und melodische Stimme und in einem bezaubernden französischen Akzent. Wieso, dachte sie, es waren doch soviele Tische frei. Warum wollte er ausgerechnet an ihrem Tisch sitzen?

--,,Ein Platz an die Fenster ist einfach schöner als mitten drinn zu sitzen!'', sagte er, als habe er ihre Gedanken gelesen, oder war er nur ihrem Blick zu den freien Tischen gefolgt.

Und dann wurden ihre Augen gefangen von seinem unbeschwerten Lächeln und sie versank wieder in diesen großen braunen Augen, umrahmt von diesen üppigen und wilden Brauen. Da lagen sie wieder die Kornflakes, die Körner, Rosinen und sonstigen getrocknete Früchte. Der Plastikbeutel war sofort aufgeplatzt und sein Inhalt nach allen Seiten gespritzt. Sie war zu schnell gerannt gewesen, wie so häufig; Zeitdruck, Markus wartete im Kindergarten. Der Mann mit den braunen Augen hatte sich viel zu schnell mit seinem Müslibeutel herumgedreht. `Verdammt noch mal, können sie nicht besser aufpassen!'', formulierte sie schon in Gedanken, aber seine Freundlichkeit und vor allem seine sanften, reuigen Augen erstickten jede Wut in ihr. Beide hatten inmitten des verstreuten Müslis gekniet. Irgendwas Französisches hatte er wohl zur Entschuldigung gebrummelt. Er war wohl so verwirrt gewesen nach dem Zusammenstoß, daß er seine Deutschkenntnisse vergessen hatte.

--,,Haben Sie sich verletzt?'', hatte er sie gefragt.

Unheimlich vertraut war er ihr sofort. Hier ist jemand, der sich für andere sorgt, glaubte sie in seinen Pupillen zu lesen, nicht jemand, der nur um sich selbst kreist. Ein Blick, um den ihn wohl jeder Psychiater beneiden würde. Komm' sprich' dich aus, sag' mir wo's fehlt, hier ist jemand, der dich versteht. Aber hinter seiner Iris verbarg sich auch ein Reh, ängstlich, und selbst hilfsbedürftig. Liebe auf den ersten Blick gab es sowas wirklich. Aber sie liebte ihn doch nicht, es durfte doch nicht sein. Mit einem Schlag verstand sie plötzlich die kurzen Beschreibungen des alten Testaments, wenn es da heißt ,,und er erblickte sie und neun Monate später gebar sie ihm einen Sohn''.

So eine richtige Lüge war es gar nicht, als sie ein paar Minuten später, nachdem er an ihrem Tisch Platz genommen hatte, seine Frage, ob sie öfters in diese Cafeteria komme, bejahte. Jeden Tag käme sie etwa zur gleichen Zeit und sie wußte, daß sie von nun immer zu dieser Zeit da wäre, wenn es ihr möglich wäre. Vor allem spürte sie, daß sie traurig wäre, wenn er nicht erschiene. Es kam ihr vor wie eine Verabredung, und sie hoffte, daß auch er es so auffassen würde.

--,,Also wir sehen uns dann bestimmt ja wieder mal!'', hatte er zum Abschied gesagt und hatte ihre Hand einige Augenblicke zu lange gedrückt.



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